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Neapel: Wärme im Herzen - Reise - Gesellschaft - Tagesspiegel Facebook

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Meine Sitznachbarn sind auf dem Weg nach Capri. Seit nunmehr 14 Jahren fliegen sie jedes Jahr hin, immer im Januar. Capri im Winter, ein Traum. Aber Neapel? „Um Himmelswillen!“ Ein Hexenkessel aus Armut, Drogen, Gewalt sei das. Den überlebe man nicht, und wenn, werde man ausgeraubt. Für einen halben Tag wollen sie sich vielleicht in die Stadt trauen – der Dom, die Museen sind immer wieder schön. Aber eine ganze Woche? „Passen Sie bloß auf sich auf!“

Vor dem Flughafenterminal verliere ich die neuen Bekannten aus den Augen. Wie alle anderen Touristen streben sie zu den Bussen, Richtung Sorrent, Amalfi oder Fährhafen, wo im Stundentakt die Schnellboote ablegen, nach Capri und Ischia. Den Bus ins Zentrum von Neapel besteige ich gemeinsam mit Arabern, Schwarzafrikanern, einigen wenigen Italienern... Nach zwanzig Minuten Endstation Piazza Garibaldi. Es könnte auch die Djemaa el-Fna in Marrakesch sein oder die Place de l’Indépendence in Dakar. Russische, arabische, chinesische Sprachfetzen höre ich, Straßenhändler halten mir Goldkettchen und Sportschuhe entgegen, sogar einen Laptop: „Good price, Mister! Very good price!“

Nicht einfach, durch das Gewühl zum Hotel zu kommen. Doch niemand reißt mir den Koffer aus der Hand oder schlitzt meine Tasche auf. Und das Zimmer ist groß, schön und kostet pro Nacht fünfzig Euro. Ein erstaunlicher Preis für diese Hotelkategorie. Es sind kaum Gäste da. „Zurzeit ist es bei uns eher ruhig.“ Das Gesicht, mit dem der Portier das sagt, lässt keinen Zweifel – er meint nicht nur die Wintersaison. Der neapolitanische Fremdenverkehr liegt nach einem Sommer der Skandale – Müll-Gau, Bandenschießereien, Fußballkrieg – am Boden.

Touristen aber, so heißt es, seien in Neapel kaum gefährdet, stünden sogar unter besonderem Schutz der Mafia, die hier Camorra heißt und in zahlreichen Restaurants und Hotels ihr Drogen- und Schmuggelgeld wäscht. Urlaub im Schutz des organisierten Verbrechens – gleich fühle ich mich ein gutes Stück sicherer.

Die Innenstadt Neapels gleicht einem Architekturmuseum. Griechen, Römer, Normannen, Staufer, Bourbonen – alle waren hier, alle haben sie ihre Tempel, Kirchen, Paläste hinterlassen, 3000 Jahre Geschichte sind auf den Plätzen und in den Gassen präsent.

Ebenso präsent sind aber auch die Verwerfungen der globalisierten Gegenwart: Schwarzafrikaner kauern hinter Bergen gefälschter Gucci-Taschen. Schuh- und Schmuckgeschäfte, sogar die berühmten Weihnachtskrippenschnitzer warnen mit Schildern vor der ökonomischen Sintflut aus Fernost: „Handarbeit! Nichts aus China!“ Nach Sonnenuntergang lauern in den Winkeln des berüchtigten Forcella-Viertels minderjährige Drogendealer. Dazu brüllt der infernalische Verkehr, das Müllproblem scheint ungelöst zu sein. So stellen sich Apokalyptiker die Zukunft Europas vor.

Dennoch: Es gibt Touristen in der Stadt. Reisegruppen, die sich, von ihren Führern gelenkt, durch die Gassen der Altstadt und durch die Portale der Kirchen drängen, ängstlich Handtaschen und Fotoapparate umklammernd. Nach zwei Tagen Neapel fühle ich mich nicht nur sicher, sondern auch schon sehr authentisch und möchte laut rufen: „Leute, entspannt euch – ihr reist im Schutz des organisierten Verbrechens!“

Diese Stadt lässt sich nicht in wenigen Stunden begreifen. Man muss sich Zeit nehmen für ihre Schönheit und ihren Geist. Dann spürt man die enorme Energie, die von ihr ausgeht. Neapel, so wirkt es, wird die Probleme meistern und nicht an ihnen ersticken.

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Und dann die Einwohner! Sie sind noch netter als die Italiener im Rest des Landes. Der Neapolitaner an sich gilt sowieso als herzlich. Aber ich habe das Gefühl, in der Offenheit und Hilfsbereitschaft, die mir überall begegnet, schwingt noch mehr mit: „Wir sind gar nicht so wie unser Image. Hier leben Menschen mit Anstand und Moral. Schön, dass du da bist.“

Für Neapel als Basislager sprechen auch einige Attraktionen im Umland, die man von den Touristenorten aus nur schwierig erreicht. Caserta, zum Beispiel, die Residenz einiger größenwahnsinniger Bourbonenkönige; Prunk und Protz bis zur Ekelschwelle, ein überbarockes Machwerk, größer als Versailles. Oder die Phlegräischen Felder, mit ihren brodelnden Sümpfen und Vulkankratern, die noch richtig rauchen. Rauchen tut der Vesuv nämlich derzeit nicht mehr, er ist nur noch ein mäßig hoher, ziemlich hässlicher Berg, der wenig Vulkanatmosphäre verbreitet. Man kann bis zum Kraterrand klettern, man kann es auch lassen – eine gute Aussicht hat man sowieso nur bei klarer Luft, und die ist hier selten.

Auch Pompeji ist – zugegeben auf hohem Niveau – eine Enttäuschung. Die Anlage ist in desolatem Zustand, daran hat der Status als Unesco-Weltkulturerbe nichts geändert. Auch die Videoüberwachung hat nichts genützt. Immer noch gelingt es Dieben, Statuen und Mosaiken zu entwenden. Auch Touristen brechen hin und wieder ein Steinchen ab. Die wertvollsten Kunstschätze, darunter fast alle der Fresken, wurden längst im Nationalmuseum in Sicherheit gebracht. Pompeji ist imponierend groß – aber in weiten Teilen eben heute nicht mehr als ein Trümmerfeld.

Die eigentliche Sensation ist Herculaneum, ein kleiner Ort zwischen Pompeji und Neapel. Am selben Tag wie Pompeji fiel er den Lavamassen zum Opfer, wurde aber erst viel später wieder ausgegraben.

Einen ganzen Vormittag schlendere ich die Kopfsteingassen auf und ab. Mache an der Weinschenke halt, wo noch die Amphoren im Regal stehen. Schaue beim Bäcker vorbei, in dessen Ofen man wohl heute noch Brot backen könnte. Bewundere im Haus seines besser situierten Nachbarn die Mosaiken und bemalten Wände... Alles wirkt so lebendig und nahe, als könne jeden Moment der Hausherr in seiner Toga hereinkommen und zu Tisch bitten.

Nach fünf Tagen Neapel erfasst mich eine Sehnsucht nach Ruhe. Am Morgen nehme ich das erste Schnellboot nach Capri. Mal sehen, ob die Insel wirklich so schön ist, wie alle behaupten. Sie ist es. Sie ist genau so, wie sich Deutsche Capri vorstellen: einhundert Prozent schön. Weinberge und Apfelbäume, romantische Ruinen, heiter-gelassene Menschen in weißen Anzügen, die nicht mehr vom Leben verlangen als genau die Multimillionärsvilla am Berghang, die sie schon besitzen...

So viel Schönheit lähmt. Man sitzt da, rührt in seinem perfekt gebrühten Cappuccino – und schwelgt. Deshalb ist es bereits später Nachmittag, als ich endlich die Anlegestelle neben der legendären Blauen Grotte erreiche. Kein Boot ist in Sicht, das mich in die Grotte schippern könnte. Ich ziehe mich aus, springe ins Wasser und schwimme hinein, wie es schon Kaiser Tiberius getan hat (okay, der hatte noch seinen Harem dabei). Das Wasser leuchtet blau. Stille ringsumher. Gelegentliches Glucksen. Capri: hundertfünfzig Prozent schön.

In gut zwei Stunden wird das letzte Schnellboot ablegen, mich zurückbringen ins Lichtermeer, zu Pizza und Pasta, Straßenmusik und rumänischen Hütchenspielern... Ich freue mich auf Neapel!

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