Als kleines Mädchen wurde ich jedes Jahr an einem Sommertag im Juli um 6 Uhr morgens von Pauken und Trompeten geweckt. Eine Blaskapelle zog durch die Straßen Memmingens, um die Bürgerinnen und Bürger zu wecken. Denn es war ein besonderer Tag: Fischertag. Ein alter Brauch, der bis ins 16. Jahrhundert zurückzuverfolgen ist.
Schnell huschte ich also aus dem Bett, rieb mir den Schlaf aus den Augen, zog mich an und fuhr mit meiner Mutter, meiner Schwester und meiner Oma bepackt mit mehreren Kübeln (Eimern) zum Stadtbach. Denn wir Frauen und Mädchen hatten eine besondere Aufgabe: Wir waren Kübelweiber. Wofür? Für meinen Vater und Bruder. Die waren nämlich schon gegen 5 Uhr aufgestanden, hatten ihre Kescher, die liebevoll auch Bären genannt werden, auf ihre Rücken geschnallt und zogen durch die Straßen Memmingens. Nicht ohne sich vorher mit Weißwurst und Bierchen zu stärken. Schließlich mussten sie gleich Großes leisten und könnten sogar zum König gekrönt werden. Punkt 8 Uhr, angekündigt mit einem Böllerschuss aus einer Kanone, springen beim Fischertag die Teilnehmer, also nur gebürtige oder wohnhafte Memminger Jungen und Männer, in den Memminger Stadtbach. Das Ziel: Forellen fangen - und wer den größten Fisch fängt, wird Fischerkönig. Die Veranstaltung geht darauf zurück, dass früher der städtische Bach einmal jährlich leergefischt wurde, um den Kanal zu reinigen.
Und was machen die Frauen? Die warten artig auf den Fang des Tages und holen mit den bloßen Händen aus den matschigen Fischernetzen die Forellen heraus. Die Verantwortung ist groß: Schließlich zappeln die Fische und glitschen einem fast durch die Hände. Die Forelle darf nicht entkommen, sie könnte schließlich die Königsforelle sein. Die Frauen in meiner Familie haben natürlich Übung darin, wir bugsieren die Fische Jahr für Jahr geschickt in den Kübel. Ist ein großes Exemplar dabei, kann man auf gut Glück zum Marktplatz gehen und das Gewicht der Forelle bestimmen lassen. Bislang gibt es noch keinen König in meiner Familie. Aber vielleicht bald eine Königin?
Denn die starren Rollenbilder erleben erstmals ein Erdbeben: Eine Memmingerin wollte es nicht auf sich sitzen lassen, dass sie, als Frau, nicht mitfischen darf. Frauen sind seit 1931 per Satzung vom Fischen ausgeschlossen. Dagegen hatte Mitglied Christiane Renz zunächst vor dem Amtsgericht Memmingen geklagt und gewonnen. Der Fischertagsverein hatte daraufhin Berufung eingelegt. Am Mittwoch urteilte das Memminger Landgericht: Die Teilnahme darf nicht aus Tradition Männern vorbehalten bleiben.
Dieses "Sonderrecht" für männliche Mitglieder in der Satzung des Vereins sei "nicht mehr gerechtfertigt", sagte Vorsitzender Richter Konrad Beß. Vereine dürften zwar grundsätzlich die Regeln für eine Teilnahme frei festlegen. Doch wenn sie Mitglieder dabei unterschiedlich behandeln, müsse dies mit dem Zweck des Vereins begründbar sein. Das Brauchtums-Fischen in Memmingen sei aber "keine absolut getreue Nachbildung" eines historischen Geschehens. Daher könnten Frauen teilnehmen, ohne dass das Ziel der Heimatpflege in Gefahr gerate.
"Die Schuhe stehen parat", sagte Christiane Renz mit Blick auf den nächsten Fischertag, der wegen der Coronakrise schon zweimal ausfallen musste. "Dann wird pünktlich am Bach gestanden und reingejuckt." Jahrelang war Renz das "Jucken", das jährliche Ausfischen des Stadtbachs in Memmingen mit Tausenden Zuschauern, vom eigenen Verein verwehrt worden - weil sie eine Frau ist.
Gut zu wissenMit dem Urteil und ihrem Aufbegehren könnte Christiane Renz einen Stein ins Rollen gebracht haben. Das Urteil des Memminger Landgerichts könnte nun Auswirkungen auf andere Männertraditionen haben. Der Erste Vorsitzende des Fischertagsvereins, Michael Ruppert, sprach von einem "Tag, der viele, viele Vereine in ganz Deutschland betreffen könnte". Er finde es "schade, dass die Vereinsautonomie nicht im Vordergrund war". Viele prominente Männertraditionen in Deutschland waren - teils nach jahrelangen Debatten und Protesten - zuletzt aber auch ohne Gerichtsurteil für Frauen geöffnet worden. Das Bremer Eiswettfest blieb im vergangenen Jahr erstmals keine reine Männerveranstaltung: Unter den 800 Gästen waren rund 30 Frauen. Auch beim "Blutritt", einer Reiterprozession im oberschwäbischen Weingarten, dürfen seit November 2020 Frauen mitreiten. Zuvor war ein Antrag der Stadt, den "Blutritt" in die Liste des Immateriellen Kulturerbes aufzunehmen, an der fehlenden Offenheit für Frauen gescheitert.
Ob Christiane Renz nächstes Jahr wirklich in den Stadtbach springen darf, ist damit noch nicht ganz entschieden. Der Memminger Fischertagsverein hat noch die Möglichkeit in Revision zu gehen. Dann entscheidet das Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Oder aber sie lassen Frauen, die mögen, einfach fischen - und es wird eine neue Tradition ins Leben gerufen, die des Kübeljungen und der Fischerkönigin beispielsweise. Das kleine Mädchen, das ich mal war, würde dann auch endlich eine Antwort auf die Frage bekommen: Warum dürfen eigentlich keine Frauen fischen?
dsw mit DPA