Ein Arbeitskollege erzählte mir, dass Udo Lindenberg vor anderthalb Jahren mit einem Kleinkaliber-Revolver im Handgepäck am Hamburger Flughafen erwischt wurde, was mein Interesse an ihm wachsen ließ. Zugegeben: Ich bin kein so großer Lindenberg-Fan wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Tausende andere Deutsche. Udo war ein Universum, in das ich nie eingetreten bin. Es hat sich einfach nicht ergeben.
Ich wusste, dass Udo Lindenberg im Hotel Atlantic an der Alster wohnt, Porsche fährt, mit Eierlikör Bilder malt und sich sicher ist, dass man ein Herz reparieren kann. Ich hörte mir ein paar Songs an. Mir war nicht klar, wie wunderschön unangepasst sie sind: "Die Spießer regen sich tierisch auf und reden von Beklopptomanie, doch wir kichern uns eins und wissen, die wahren Bekloppten, das sind die!"
Udo Lindenberg ist 1946 geboren, Nachkriegsdeutschland. Ich 1986, Kohl-Deutschland. Viele meiner Freunde finden Lindenberg toll. Auf der "MTV Unplugged"-Platte, seinem bislang erfolgreichsten Album, singt er mit Jan Delay und Max Herre. Woher kommt dieser Hype? Und was kann ich eigentlich von Udo lernen?
Wir treffen uns in einer Suite im Berliner Grand-Hyatt-Hotel, weil er am nächsten Tag mit seinem neuen Song beim Musikpreis Echo auftritt, wohin ich ihn begleiten werde. Ich solle ihn bloß bitte unbedingt duzen. Udo also ist gerade wiedergekommen aus Dubai, der Stadt der hohen Türme und der dicken Autos. Er könne derzeit einfach nicht Urlaub auf Mallorca machen, weil dort so viele Deutsche abhingen. Aber noch mal müsse er nicht nach Dubai. Es sei eine seltsame Stadt, und es würde ihn zu sehr nerven, sagt Udo, dass die Menschen dort sich einfach aus der Flüchtlingskrise raushielten. Keine Solidarität, keine müde Mark für die Flüchtlinge. Ich bin erst fünf Minuten da und kann Udo schon gut leiden.
Der Gründer des Hamburger Kult-Plattenladens "Hanseplatte" sagte neulich in einem Interview, dass Udo Lindenberg immer mehr so aussehe wie Karl Lagerfeld. Das stimmt. Udo ist dünn, er trägt einen schwarzen Anzug, in dem er Zigarren rauchend auf dem Sessel rumschlonzt. Andere Menschen in seinem Alter tragen orthopädische Schuhe. Udo trägt knöchelhohe Reebok Classics in Schwarz, dazu neongrüne Socken. Das kann sehr peinlich wirken, wenn man alt ist, aber das tut es bei ihm nicht. Vor Udo auf dem Tisch steht ein Energydrink. Hut und Brille sowie Teile der Panikfamilie, die versprengt in der Suite abhängen, vervollständigen the Udo-Way-of-Life.
Er sagt, er habe abgenommen, weil er viel Sport gemacht habe. In den vergangenen Jahren, von 95 Kilo auf 72, er wollte kein Rock'n'Roll-Mops und Mördersuffkopp mehr sein. Im Mai geht Udo mit seiner neuen Platte "Stärker als die Zeit" auf Tour. Und er wird 70. Er wird mit selbst gebauten Fluggeräten als singender Außerirdischer durch die vollen Hallen dieses Landes schweben. Die erste Single-Auskopplung seiner neuen Platte heißt "Durch die schweren Zeiten", und schon jetzt kann man sich vorstellen, wie Menschen sich in den Spelunken dieses Landes in den Armen liegen, dem Leben zuprosten und den Text mitlallen. Es ist ein ausgesprochen gutes Lied.
Lindenberg stand aber immer schon nicht nur für seine Musik, sondern für eine Haltung. Seit Jahren besingt er die bunte, offene Welt, in der die Toleranz regiert und die Menschenrechte an oberster Stelle stehen. Keine Grenzen, make love, not war. Gegen Nazis, für Abrüstung. Sicherlich auch ein Grund, warum Udo generationenübergreifend für gut befunden wird. Udo, wie ist das, wenn man schon seit Jahrzehnten für die gute Sache kämpft und man dann mit ansehen muss, wie sich die Übergriffe auf Flüchtlingsheime im vergangenen Jahr fast verdreifacht haben, die AfD in die Parlamente einzieht und die Flüchtlingskrise Menschen zu besorgten Bürgeridioten macht?
Klar, der Rückfall in nationalstaatliche, rassistische Zustände mache ihm Sorgen. Er überlege, bald mal das deutsche Grundgesetz zu rappen. Damit alle sich wieder daran erinnerten, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Wie ich die Idee fände mit dem Grundgesetz-Rap, fragt er. Saugut.
Er nimmt die Sonnenbrille ab. Es fühlt sich an, als stünde man plötzlich nackt mit ihm in einem Raum. Seine Augen sind so traurig. Während draußen die Sonne den Beton Berlins in goldenes Licht taucht, erzählt Udo eine Geschichte, die vielleicht einer der Schlüsselmomente seines Lebens ist. Die Geschichte spielt in Gronau. Dort wächst Udo mit seinen drei Geschwistern auf. Seine Eltern sind traumatisiert von den Erlebnissen des Krieges, aber sie schweigen beharrlich. Vater Gustav arbeitet als Installateur. Heimlich träumt er davon, Dirigent zu sein. Den Hang zum Suff, der ihn später fast umbringen wird, erbt Udo von ihm. War der Vater randvoll, stellte er sich auf den Küchentisch, schwang mit wehenden Haaren den Kochlöffel und dirigierte die Kinder, die ein Orchester mimen sollten. Der Vater grinste selig, taumelte dann ins Bett. Lindenberg sagt: "Damals schwor ich mir, niemals so zu werden. Ich wollte nicht nur breit der Dirigent meines eigenen Lebens sein!"
Udo verließ Gronau und damit die Enge der Kleinstadt, die Kirchenglocken, das bürgerliche Leben, in das er hineingeboren war. Ihn hatte ja niemand gefragt, viel lieber wollte er vom Himmel auf einem D-D-Doppelkornfeld gelandet sein, aber das ist so eine typische Lindenbergsache, Dichtung und Wahrheit.
Die anderen hielten ihn für einen Spinner, aber es kümmerte ihn nicht. Ehrlich Udo, war dir das immer völlig egal? Du darfst nie auf die Spießer hören, sagt er, sonst wirst du krank. Schaut man sich alte Bilder an, muss man sagen: Die Rolle des Mannes mit Hut und Anzug hat Lindenberg über die Jahre entwickelt. Auch wenn er heute vorgibt, immer genau dieser Mann gewesen zu sein. Aber: Kann man nicht auch der Mensch seiner Gedanken werden? Dichtung und Wahrheit. Zwei Versionen eines Menschen und doch ein und derselbe. Ich glaube, das geht.
Udo machte sich zunächst als Trommler einen Namen, kam über Umwege nach Hamburg. 1971 erschien das erste Album, auf dem er sang. Rock’n’Roll. Auf Englisch. Ein Flop. Danach sang Udo nur noch Deutsch, was er eh besser konnte: "Alles klar auf der Andrea Doria", "Wofür sind Kriege da?", "Sonderzug nach Pankow", "Wir wollen doch einfach nur zusammen sein (Mädchen aus Ost-Berlin)". In weiten Teilen eine Erfolgsgeschichte. Obwohl: Auf Platz eins der Charts kam Udo erst mit seinen letzten Alben. Vielleicht also: der lange Weg zu einer Erfolgsgeschichte. Eine beruhigende Erkenntnis: Man muss offenbar sein Leben nicht mit 27 durchgejagt haben, um zur Legende zu werden.
Je älter Udo wird, desto interessanter ist nicht nur seine Musik, sondern auch sein Aussehen geworden. Seine Wangenknochen sind markanter, die Unterlippe hat sich noch ein bisschen weiter rausgewagt in Richtung Außenwelt. Er wirkt wie eine Mischung aus Kid Rock, Goofy, Lucky Luke und Marlon Brando in "Der Pate".
Ein "Spiegel"-Reporter formulierte mal über Angela Merkel, sie sei "eine Frau, die eher über die Zeit beschrieben werden kann, in der sie lebte, als über die Dinge, die sie tat". Ich glaube, Udo Lindenberg kann man am besten über die Menschen beschreiben, die ihn umgeben. Rund ein Dutzend Leute gehört zum engeren Kreis der Panikfamilie. Regierungsform: Basisdemokratie. No Chef. Only Udo, der wie ein Guru über allen thront. Das prominenteste Mitglied der Familie ist der Popliterat Benjamin von Stuckrad-Barre. Auf Tour wächst die Familie auf bis zu 300 Leute an.
35 Trucks benötigt sie, um voranzukommen. Beim Echo brauchen sie fünf Wagen, um Udos Begleitschaft zum roten Teppich zu chauffieren. Neuerdings trägt er einen langen schwarzen Mantel, der ihn von hinten aussehen lässt wie den Wanderer über dem Nebelmeer. Während er Fernsehteams-Interviews gibt, stöckeln neben ihm ehemalige "Germany’s Next Topmodel"-Gewinner und aktuelle Youtube-Stars. Udo wirkt wie ein Gemälde inmitten von Snapchat-Videos. Und auch wenn seine Panik-Begleiter nur im Hintergrund bleiben, er braucht sie. Die meisten, sagt er, seien ihm zugelaufen. Als ich ihn frage, woher er wusste, dass sie gut sind, klopft er auf sein Herz. Er ist der Trauzeuge seines Anwalts, der ihm seit Jahren die Verträge aufsetzt. Wenn man die Leute um ihn herum fragt, wie lange sie ihn schon kennen, hört man: 40, 30, 20, 10 Jahre.
Beim Echo lerne ich die Panikfamilie näher kennen. Udo, so scheint es, hat wirklich nur Leute um sich gesammelt, die das Herz auf dem rechten Fleck haben. Interessante Typen, die alle eins eint: Sie leben das, was sie lieben. Udo. Da ist zum Beispiel Schwessi, seine Social-Media-Managerin, die schon immer Udo-Fan war. Oder Frank, auch Ober-Udo-Fan und früher Bankangestellter, der jetzt für Lindenberg ein bisschen Technik macht, das Archiv und seine Immobilien verwaltet. Tine Acke, Fotografin und Freundin von Udo. Die Zarin, seine Haare-Make-up-Frau. Oder Arno, von dem niemand genau sagen kann, wofür er zuständig ist, aber über den sich alle einig sind: Arno ist wichtig.
Wenn man in einem Hotel lebt, ist man dann eigentlich immer auf der Reise? Oh, hmmm, jajaha, macht Udo. Genau so sei das, und es soll bloß nicht geändert werden. Nicht umsonst heiße sein Hutmodell "Open Road". Er sei eben ein Streuner, Kommissar Spürnase. Er müsse mal nach L.A., reinschnuppern und dann wieder in die alten Kneipen auf St. Pauli. Sein einziges, wenn man so will, "Büro" hatte Udo im Salambo, einem legendären Live-Sex-Theater auf der Großen Freiheit. Dort stand sein Faxgerät im Keller. Heutzutage nutzt er das vom Hotel Atlantic. Er sagt, er habe mal in einem Haus gelebt, weil er sich das erfüllen wollte, was seine Eltern wollten, aber es sei einfach nichts für ihn gewesen. Udo hat einen Sohn, der woanders lebt und nicht mit dem Stigma aufwachsen soll, ein "Sohn von" zu sein.
Je länger ich mit ihm rede, ihn beobachte, desto mehr verstehe ich, warum Menschen Udo genial finden. Er ist das letzte Einhorn, die Realversion von Pippi Langstrumpf. Er lebt in einer selbst erdachten Villa-Kunterbunt-Sphäre, aber er kann auch rausspazieren und in der gemeinen Welt ein bisschen abhängen. Kein Problem, doch wenn es ihm zu langweilig wird, widdewiddewitt, alles easy, dreht er noch 'ne Runde im Raumanzug durchs Weltall. Und nachts malt er die Sterne mit Eierlikör an. Sein neues Album widmet er der Freundschaft und dem Leben, und wahrscheinlich kann man auch das nur wirklich überzeugend tun, wenn man eben mal fast gestorben wäre an den mehr als vier Promille, mit denen er damals ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Das würde er generell jedem raten: nicht so viel zu saufen. Es gehe einem nicht besser davon, "man macht nur Mist und benimmt sich scheiße". Er jedenfalls möchte kein moderner Werther sein, nein, nein. Neulich traf er per Zufall den Sensenmann. Er hat ihm den Mittelfinger gezeigt.
Sicherlich ist auch nicht alles so easy in seinem Leben, wie er vorgibt. Und sicherlich war er auch schon oft so traurig, wie seine Augen aussehen. Denn wer mal zwei Flaschen Whisky am Tag saufen musste, um sich auszuhalten, der kann nicht glücklich gewesen sein, der war am Arsch. Und das zeigen die Augen.
Lindenberg säuft schon lange nicht mehr, er trinkt. Er hat sich in Gelassenheit geübt und eine Gruppe guter Menschen um sich geschart, denen er die Treue hält. Er hat echte Freunde, und falls er doch mal ängstlich oder unsicher ist, was er mit Sicherheit mal ist, denn sonst trägt niemand so oft Hut und Sonnenbrille, dann jedenfalls findet Udo in der Panikfamilie Halt.
Lindenberg hat acht Bundeskanzler erlebt und ist schon zu Lebzeiten die Legende geworden, die er immer sein wollte. Er ist ein Träumer und Trommler, der in die Welt zog und bewiesen hat, dass man so leben kann, wie man es für gut und richtig hält. Er ist der einzige Mensch, dem ich nachsehe, wenn er Sachen sagt wie: "Lass rocken" oder "Das fetzt". Man kann von ihm lernen, dass man nicht das Modell "Mutter, Vater, Kind, Haus mit Einbauküche" leben muss, wenn man nicht dafür gemacht ist. Und dass sich Träumen lohnt. Immer noch, immer mehr. Bestimmt kann man gut mit ihm auf dicken Hotelzimmer-Teppichen liegen, Musik hören und Welten erfinden, in denen die Spinner regieren, wo man auch ohne Fluggeräte fliegen kann und wo Frieden herrscht. Obwohl, warte mal - Udo, was ist denn jetzt eigentlich mit dem Kleinkaliber in deiner Tasche am Flughafen gewesen? Wolltest du jemanden umlegen?
Er lächelt. Natürlich nicht. Gitarren statt Knarren. Gehörte seinem Bodyguard, die Pistole. Kurze Pause. Man ahnt, was jetzt kommen wird.Keine Panik.Hoffentlich wird er hundert Jahre alt.