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Franzi*, 14 Jahre, Schülerin
Ein Mädchen aus meiner Klasse und ich saßen bei ihr zu Hause auf dem Bett, als die Frage kam. Ich wollte eigentlich nicht, aber habe "Ja" gesagt. Ich dachte, sie ist dann netter zu mir. Und dann hat sie auf der Hälfte des Kopfes zehn Zentimeter abgeschnitten. Angeblich aus Versehen; entschuldigt hat sie sich nicht. Als ich nach Hause gekommen bin, wollte ich nicht, dass Mama das sieht. Aber sie hat es natürlich trotzdem gemerkt.
Eigentlich habe ich jeden Tag in der Schule Angst, dass wieder irgendetwas passiert. Dass die anderen aufstehen, wenn ich mich in der Mensa zu ihnen setze. Dass ich Sprüche kriege wie "Heulst du jetzt gleich?" Dass sie im Sportunterricht beim Basketball nie zu mir passen und ich trotzdem schuld bin, wenn wir verlieren. Auch wenn ich nicht in der Schule bin, habe ich keine Ruhe. Dann bin ich zur Halloween-Party eingeladen und werde kurz vorher wieder ausgeladen und sie posten Bilder, wie toll es war oder mit wem sie alles befreundet sind. Ich habe das Gefühl, dass sie das bewusst tun, um mich traurig zu machen. Das Wort Mobbing aber mag ich nicht; irgendwie klingt es für mich zu stark.
Es geht im Wesentlichen von zwei Mädchen aus; bei der dritten bin ich mir unsicher, ob sie vielleicht wirklich mit mir befreundet sein will, weil sie mich mag. Manchmal ist auch eine Weile alles gut, wir treffen uns in den Ferien und ich denke, dass es jetzt vorbei ist und wir vielleicht doch alle Freundinnen sind. Doch dann bin ich von einem Tag auf den anderen wieder außen vor und ganz unten. Das trifft mich immer wieder hart. Ich überdenke dann wirklich alles, aber mir fällt nichts ein, was ich falsch gemacht habe. Wenn ich das wüsste, könnte ich es ja ändern. Ich versuch, mir nichts anmerken zu lassen, aber wenn man traurig und enttäuscht ist, ist das sehr anstrengend.
Dass Mama bei der einen Mutter angerufen hat, fand ich nicht gut. Irgendwie wurde es dann noch schlimmer. Deswegen habe ich meiner Mutter irgendwann nicht mehr alles erzählt. Sonst hätte sie das vielleicht wieder gemacht. Mit der Schulpsychologin kann ich anders über die Dinge reden. Die Gespräche mit ihr tun gut. Sie ist wie eine Freundin.
Es gab auch einen Termin mit ihr, dem Schulleiter und dem Mädchen, das mir die Haare abgeschnitten hat. Sie hat erst alles abgestritten, sich dann verwickelt mit den Lügen und schließlich geweint – aber ich glaube, das war, damit die anderen Mitleid mit ihr haben. Irgendwann hat sie sich dann doch entschuldigt. Ich habe nichts gesagt. Die Schulpsychologin wollte, dass ich meine Wut auf den Tisch bringe, aber das konnte ich nicht.
Seitdem habe ich den Kontakt zu den drei Mädchen komplett abgebrochen. Es ist okay, wenn ich sie in der Schule sehe, aber ich möchte nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Ich habe keine Hoffnung mehr, dass sie doch noch meine Freundinnen werden. Es fühlt sich an wie eine Befreiung. Ich habe jetzt neue Freundinnen und ich denke nicht, dass mir so etwas noch mal passiert. Mama ist da misstrauischer. Das nervt. Ich fände es besser, wenn sie sich raushält und mich machen lässt.
Cornelia*, Franzis Mutter
Wenn ich anderen erzähle, dass meine Tochter gemobbt oder ausgeschlossen wird, kommt immer die Frage: Was hat sie denn gemacht? So als sei sie selbst daran schuld. Die abgeschnittenen Haare hat meine Schwester kommentiert mit "Und warum hat sie nicht 'Nein‘ gesagt?" Dabei geht es einem doch selbst als Erwachsene so, dass man zwar anderer Meinung ist, aber erst hinterher darauf kommt, wann der richtige Moment gewesen wäre, um etwas zu sagen.
Oft heißt es auch, dieser "Zickenkrieg" sei in der Pubertät doch ganz normal. So hat zum Beispiel Franzis Lehrer reagiert, als ich ihn mal darauf angesprochen habe. Tatsächlich gewöhnt man sich fast daran. Erst eine Freundin hat uns wachgerüttelt. "Was suchst du den Fehler bei dir", hat sie zu Franzi gesagt, als sie von der Sache mit den Haaren erfuhr. "Du hast nichts falsch gemacht. Die anderen sind das Problem und gemein." Das zu hören, hat Franzi so gutgetan – und mich zum Nachdenken gebracht. Vielleicht war nun wirklich eine Grenze überschritten. Der Mann meiner Freundin ist Anwalt und riet, Anzeige wegen Körperverletzung zu erstatten, aber das wäre nicht unsere Art.
Franzi leiden zu sehen, bricht mir das Herz. Sie ist so ein wundervoller Mensch, zart, sensibel, zielstrebig und mit einem großen Herz. Ich weiß, dass jede neue Enttäuschung Spuren hinterlässt, und manchmal habe ich Angst, sie ganz zu verlieren. Vor jedem Schulausflug und jeder Klassenfahrt mache ich mir Sorgen. Eigentlich sind diese Dinge ja etwas Tolles, auf das man sich freut, aber selbst wenn ein paar Tage lang alles gut war und sie mit einem der Mädchen abgemacht hat, im Bus nebeneinander zu sitzen, schickt sie mir ein Foto von dem leeren Platz neben sich. Das macht mich so traurig.
Natürlich möchte ich sie beschützen. Deswegen ist es auch nicht so, dass ich nichts getan habe. Ich habe auch schon mal die anderen Mütter angesprochen. Ohne Erfolg. "Da misch ich mich nicht ein, das sollen die Kinder unter sich klären", hat die eine gesagt. Dieser Moment, als Franzi nach der Schule heulend ins Auto gestiegen ist und gesagt hat: "Ich halte das nicht mehr aus. Ich gehe in die Parallelklasse." Da habe ich mich im Nachhinein geärgert, dass ich nicht meine Wut genommen habe und endlich mal Klartext mit den anderen geredet habe.
Stattdessen habe ich mich nach dem Gespräch mit meiner Freundin an die Schulpsychologin gewandt, von der ich bis dahin ehrlich gesagt gar nicht wusste, dass es sie gibt. Franzi erzählt nicht viel von den Terminen bei ihr. Aber es ist gut, dass sie jemanden zum Reden hat. Als Mutter ist man da sicher nicht immer die richtige Person.
Die Schulpsychologin hat gesagt, sie werde Franzi einen Panzer verpassen. Sie sei eine Elfe, ängstlich und hypersensibel. Sicher braucht sie eine Art Schutz, um nicht alles an sich herankommen zu lassen, aber sie soll doch sein dürfen, wie sie ist. Dann ist sie eben still und zurückhaltend, schüchtern und abwägend! Ich möchte ihr nicht zu verstehen geben: Mit dir stimmt etwas nicht.
Bestärkt durch die Schulpsychologin hat Franzi den Kontakt zu den drei Mädchen, die sie immer auf dem Kieker hatten, inzwischen abgebrochen. Die Schulschließungen in der Corona-Zeit haben ihr dabei geholfen. Einsam war sie zunächst trotzdem. Wir haben mit ihr gelitten, aber dieses Mal haben wir gemeinsam durchgehalten. Und ganz langsam haben sich neue Kontakte entwickelt; vielleicht war Franzi vorher auch blockiert und nicht offen, neue, ehrliche Menschen in ihr Leben zu lassen. Ich freue mich jedes Mal unbändig, wenn ich ihr freies und unbeschwertes Lachen höre und sehe, dass sie wieder Lust hat, rauszugehen. Dafür bin ich so dankbar.
Sie ist stärker geworden. Und ich muss lernen, sie loszulassen. Als der Präsenzunterricht losging, war Franzi cooler als ich. "Mach dir keine Sorgen, Mama", hat sie gesagt. Ich bewundere ihren Mut.
*Die Namen wurde von der Redaktion geändert
Professor Dr. Mechthild Schäfer, Psychologin an der LMU München
Ich bin kein Fan davon, Mobbing von Seiten des Opfers zu analysieren. Natürlich neigt dieses zur Selbstattribution: Es muss ja an mir liegen, schließlich machen sie es mit niemandem sonst! Umso wichtiger ist es zu verstehen: "Nein, du warst nur zur falschen Zeit am falschen Ort!" Wie das Opfer sich verhält, ist de facto nahezu ohne Einfluss.
Mobbing fängt meist innerhalb des eigenen Geschlechts an. Wenn dann keiner einschreitet, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass irgendwann alle mitmachen. Auch grinsend danebenzustehen oder nichts zu tun, hat dabei einen Effekt. Natürlich auf das Opfer, aber vor allem ist es eine Bestätigung für die Täterseite. Darum geht es schließlich: um die Demonstration von Macht. Nicht gegenüber dem Opfer – das ist oft das Missverständnis –, sondern gegenüber der Gruppe.
Selbst wenn andere in der Klasse es blöd finden, was da passiert, werden sie meist eher der Täterseite zustimmen als dem Opfer. Diese moralische Distanzierung passiert auf Gruppenebene sehr leicht, und während es keine Zahlen dafür gibt, dass Mobbing insgesamt zunimmt, könnte dieses "Disengagement" tatsächlich zunehmen. Auch das Phänomen der Konformität und die Diffusion von Verantwortung – "Ah, die anderen schreiten auch nicht ein, dann tue ich auch nichts" – stabilisieren die Situation. Es machen zwar vielleicht nicht alle mit, aber alle gewöhnen sich daran.
Dabei finden fast alle Kinder Mobbing gemein und unfair. Man muss ihnen keine Moral beibringen, sondern sie sozusagen "nur" wachrütteln, indem man ohne zu verurteilen sichtbar macht, was da gerade passiert und dass es eigentlich komplett schräg zur eigenen Haltung ist. Moderiert von der Klassenleitung. Wir wissen aus Metaanalysen, dass die beste und nachhaltigste Intervention aus der Klasse selbst kommt und nicht von außen hineingetragen werden kann. Genau weil es ein strukturelles Problem ist, muss es auch strukturell angegangen werden.
So gut ich den Impuls verstehe, die Eltern der Täterin anzurufen, ich halte es für einen Fehler. Der Hang zu Regelüberschreitungen, dieses "Ich bin kein zweite Reihe"-Kind hat oft ein Pendant in der Erziehung. Warum also sollte man bei Tätereltern auf offene Ohren stoßen? Einmischen kann Mobbing sogar verstärken. Also: Geh zur Lehrerin, und wenn die nicht anspringt, zum Schulleiter und dann zur Aufsichtsbehörde.
Auf eine andere Schule zu gehen ist eine fatale Lösung – aber möglicherweise richtig, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Sie signalisiert: Wer nichts falsch macht, muss gehen; wer etwas falsch macht, darf bleiben. Das ist administratives Mobbing. Wenn man das Kind von der Schule nimmt, sollte man – ohne Rachegefühle! – zumindest eine Dienstaufsichtsbeschwerde erwägen, um klarzumachen: Da passiert etwas in der Schule, was nicht sein darf, und es wäre die Verantwortung der Schule, sich darum zu kümmern.
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