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FAMILIE FRIEDMAN - brand eins online

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Patri Forwalter-Friedman parkt seinen verbeulten Kombi. Seine langen Haare sind lila gefärbt. Der livrierte Portier schaut indigniert. Patri geht durch die riesige Marmor-Empfangshalle und fährt mit dem goldenen Fahrstuhl in den 20. Stock zur Wohnung seiner Großeltern. Die wohnen seit einem Vierteljahrhundert in einem der wenigen Hochhäuser auf dem Russian Hill in San Francisco. Die Außenwände sind ganz aus Glas, mit herrlichem Blick auf die Golden-Gate-Brücke, Alcatraz und das Finanzviertel. Das Apartment ist modern eingerichtet, mit Glastisch und rechtwinkliger Sitzgarnitur. Der Teppich ist so weich, dass man fast bis zu den Knöcheln darin versinkt.

Rose und Milton Friedman sind entsetzt. Schon Enkel Rick verdarb die Vorstellung seiner neuen Freundin, weil er einen Ohrring trug. Aber Patris Auftritt beim Familientreffen ist ein Schock. "Wogegen will er nur protestieren?", fragen die Großeltern ihren Sohn David, den Vater von Patri. Der lacht nur und sagt, dass man mit so einem Aussehen vor einem Vierteljahrhundert rebellierte - heute sei das nur eine Mode. Patri kann die Aufregung nicht verstehen: "Das ist doch nur Ästhetik, es bedeutet mir nichts."

Als Patri den Großeltern seinen Plan für ein Anarchisten-Projekt erklärt, findet er noch weniger Verständnis. Aus Beton und Stahl will er eine Art Floß bauen, das einem halben Dutzend Menschen auf 900 Quadratmetern Platz bietet. Das Floß sieht von oben aus wie eine gespiegelte Toblerone und kann mit anderen Flößen verbunden werden. Die Floßgemeinschaft "Seastead" soll sechs Seemeilen vor Gibraltar festgemacht werden. Dort würde aufgrund einer Lücke im internationalen Seerecht - in dem von Schiffen, nicht von Flößen die Rede ist - ein rechtsfreier Raum entstehen. Keine Polizei, kein Gericht. Es sollen die Regeln gelten, die von den Bewohnern aufgestellt werden - egal, ob sie russisches Roulette erlauben oder das Klonen von Menschen. "Das Projekt ist mein Traum", sagt Patri aufgeregt, der sein ganzes Erbe in Seastead stecken will. Rose und Milton schütteln den Kopf. "Das ist verrückt."

Dabei ist für den Nobelpreisträger Milton Friedman der Staat eigentlich ebenfalls ein Feind. Der Begründer des Monetarismus und einer der Vordenker der Chicagoer Schule predigt den Kapitalismus als bestes aller Wirtschaftssysteme. Geldpolitische Instrumente wie die Beeinflussung der Zinssätze sind demnach genauso verwerflich wie der gesamte keynesianische Wohlfahrtsstaat. In seinem 1962 erschienenen Hauptwerk "Kapitalismus und Freiheit" predigte Milton die Rückkehr ins 19. Jahrhundert: Steuern drastisch senken, Subventionen abschaffen, Schulen und Sozialversicherungen privatisieren. Ronald Reagans und Margaret Thatchers Wirtschaftspolitik waren stark von diesem Denken geprägt: "Der Handlungsraum für die Regierung muss begrenzt werden. Ihre Hauptaufgabe muss sein, unsere Freiheit zu schützen, Ordnung und private Verträge zu gewährleisten sowie wettbewerbsfähige Märkte zu fördern", schreibt Milton Friedman.

Familie Friedman: drei Generationen im Kampf für Freiheit, Vernunft und persönlichen Erfolg

Mit seinen erzliberalen Theorien veränderte Milton aber nicht nur die Welt, sondern auch seine Familie - mehr als ihm lieb sein dürfte. Der Kontrast ist stark: Milton und Rose gingen 70 Jahre lang im Weißen Haus ein und aus und berieten Regierungen in der ganzen Welt. Sie halten viel von einem eigenen Heim, konservativer Kleidung und sauberen Fingernägeln. Ihre Kinder und Kindeskinder dagegen gründen Patchwork-Familien, leben in Kommunen und sind Anarchisten - allerdings ohne linke Glücksfantasien. "Ich bin Anarchist, aber ich glaube an keine Utopie", sagt Miltons Sohn David. Milton ist Rechtsprofessor und schickte seine Kinder in eine Schule, in der sie sich selbst aussuchen konnten, was sie lernen. Patri machte gerade seinen Master of Computer Science, verdient Geld mit Pokern und arbeitet an seinem Ultra-Anarchie-Projekt Seastead.

Auch Miltons Tochter Janet hält nichts vom Staat und fand früher als Anwältin und Steuerberaterin für ihre Kunden Steuerschlupflöcher. Ihr Sohn Rick folgte der Rockgruppe Phish als Fan durch das Land und kümmert sich jetzt um das Soundsystem der lokalen Pop-Rock-Band Mumbo Gumbo.

Seit dem besagten Besuch vor einigen Jahren sahen die Großeltern Patri nicht sehr häufig. Der Friedman-Clan trifft sich sowieso nicht allzu oft. "Sie leben ihr Leben, und wir leben unseres", sagt Rose. Obwohl die Alten der Kinder wegen von Chicago nach San Francisco zogen. Nun verteilen sich die Friedmans über Nordkalifornien, leben nahe beieinander, und sind trotzdem unverrückbar getrennt - mit Rose und Milton im Zentrum. Fast jeden Tag sitzt der 90-jährige Milton im Büro und arbeitet vor allem an Bildungsfragen. "Früher brauchte ich Bibliotheken, heute habe ich Google", sagt er. 1996 rief er die Milton & Rose D. Friedman Foundation ins Leben, die Eltern bei der Ausbildung ihrer Kinder unterstützt und die Privatisierung von Schulen fördert. US-Notenbankchef Alan Greenspan und seine Frau kommen bei ihren Freunden gern zum Frühstück oder Abendessen vorbei. Und auch andere hochrangige Vertreter der amerikanischen Hochfinanz sind regelmäßig zu Besuch.

Die Straßen um den Russenhügel sind steil, trotzdem gehen die beiden täglich spazieren. "Gestern war ich am Union Square", erzählt Rose - der Weg zur Einkaufsmeile dürfte für eine 91-Jährige dem Aufstieg zum Mount Everest gleichen. Trotz seines Alters kaufte sich Milton vor kurzem einen neuen Lexus. Ein BMW-Cabrio steht ebenfalls in der Tiefgarage. Als Tochter Janet und Miltons Sekretärin Gloria Valentine vor einiger Zeit vorschlugen, einen Fahrer einzustellen, blickte der Alte noch nicht einmal vom Schreibtisch auf und grummelte: "Lasst mich in Ruhe."

Er ist ein harter Knochen. In Interviews sagt er gern Sachen wie: "Ich glaube, die Frage ist nicht sinnvoll." Die große Narbe über seiner Oberlippe - als Kind flog er durch die Windschutzscheibe des Wagens seines Vaters, einem Ford T - verleiht seinem Gesicht eine kriegerische Note. Im Laufe der Jahrzehnte legte er sich mit der amerikanischen Notenbank, linken Studenten, konservativen Senatoren und dem Nobelpreiskomitee an. Sogar seinen akademischen Ziehvater Arthur Burns vergrätzte er. Die beiden versöhnten sich erst Jahrzehnte später. "Diplomatie ist nicht meine Stärke", schreibt Milton Friedman in seiner Biografie.

Und doch steckt in ihm eine große Freundlichkeit. Die zeigt er seiner Familie, Freunden und Studenten. Liebevoll erzählte er früher seinen Kindern auf langen Autofahrten selbst erfundene Märchen. Noch heute erinnert sich seine Tochter Janet an den vom Vater ersonnenen Zirkusdirektor Gazookis, der mit seinen Tieren und Artisten eine Familie besucht und deren Tochter und Sohn mit allerlei Kunststücken unterhält.

An der University of Chicago im Kurs "Ökonomie 301, Preis- und Verteilungstheorie" der Volkswirtschafts-Koryphäe Jacob Viner trafen sich Rose und Milton 1932 zum ersten Mal. Noch heute kichern beide bei der Frage, was sie damals aneinander fanden. Rose überlegt eine Weile, Milton will am liebsten das Zimmer verlassen. "Mich zog seine aufmerksame und rücksichtsvolle Art an", sagt sie schließlich. Sicherlich imponierte ihr, dass er einen Fehler bei Viners Ableitungen fand. Der Professor gab den Schnitzer erst nach Ende der Vorlesung zu. "Sie war sehr attraktiv und ist es heute noch", sagt Friedman. "Sie interessierte sich für meine ökonomische Arbeit, zumindest täuschte sie es vor."

Oft bis spät in die Nacht saßen Rose und Milton in der Fakultät an Tabellen und Kalkulationen für statistische Nachfragekurven. Doch nichts passierte zwischen ihnen. Der Wink mit dem Zaunpfahl durch den schwedischen Assistenten Sune Carlson, der die beiden nach der Arbeit in einen Fahrstuhl schubste und im Treppenflur verschwand, nutzte nichts. Artig verabschiedeten sich die beiden, Rose verweigerte sogar einen Abschiedskuss. Bis zum Händchenhalten vergingen Jahre. Auch danach war an Ehe nur zu denken, "wenn man sich vernünftig versorgen kann", so Rose. 1938 war es so weit. Die beiden heirateten in New York im kleinen Kreis, den Eltern zuliebe nach jüdischer Tradition mit Chupa und zerschmetterten Weingläsern. Übrigens: Carlson ging nach Schweden zurück, wurde dort Wirtschaftsprofessor und saß 1976 im Ausschuss des Nobelpreis-Komitees, das Milton den Preis zugesprochen hat.

Rose und Milton Friedman: Zwei Flüchtlinge werden Amerikaner und ein Kellner Nobelpreisträger

Rose und Milton haben vieles gemeinsam. Beide sind Kinder von Immigranten, die vor der judenfeindlichen Stimmung in Osteuropa Anfang des 20. Jahrhunderts nach Amerika flohen. Noch in einem polnischen - später russischen, heute ukrainischen - Dorf geboren, verbrachte Rose die ersten zwei Lebensjahre im Chaos. Ihr Vater versteckte sich tagelang und fürchtete um sein Leben, als ein Russe in der von ihm beaufsichtigten Getreidemühle mit dem Mantel in das Räderwerk geriet und umkam. Dumpfer Antisemitismus traf auf uralten Aberglauben. Rose erinnert sich, dass sich bei Schwierigkeiten bei einer Geburt alle unverheirateten Frauen die Haare kurz schneiden mussten. Als Roses Schwester an Diphterie erkrankte, musste die Mutter mit ihr zwei Tage in einer Friedhofsecke übernachten.

Rose wollte Konzertpianistin werden, folgte aber ihrem Bruder Aaron nach Chicago, um dort als eine der wenigen Frauen Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Ihre Doktorarbeit zur Geschichte der Kapitaltheorie beendete sie jedoch nicht. "Ich wollte Milton niemals auf beruflicher Ebene den Rang streitig machen - vielleicht, weil ich klug genug war einzusehen, dass ich keine Chance hatte", sagt sie. "Sie hatte einen unglaublich hohen Anteil an meiner Arbeit", sagt er.

Milton Friedman wurde in Brooklyn geboren. Seine Eltern waren jüdische Emigranten aus Ungarn. Die Mutter arbeitete als Näherin unter unmenschlichen Bedingungen, doch sie beklagte sich nicht über die Ausbeutung. Im Gegenteil, sie war dankbar für das Geld und die Chance, Englisch zu lernen. Zu Hause sprachen sie ungarisch, jiddisch und englisch. Der Vater starb früh. Im neuen Haus in New Jersey eröffnete die fünfköpfige Familie einen Kramladen. Eine Eisdiele scheitelte kläglich. Mit viel Arbeit und Sinn fürs Geld schlug sich Friedman durchs Studium: Verkaufte Hüte im Kaumaus Roselle's, kellnerte im Restaurant für ein Mittagessen, verscherbelte Feuerwerkskörper, gab Nachhilfe.

Ihre Herkunft prägt das Denken der beiden stark. Ihre Familien und auch sie selbst mussten hart arbeiten. Aber das empfinden sie als eine Gunst, nicht als Last. Genauso erwarten sie von anderen, ohne Hilfe zurechtzukommen. "America gonif", sagte Roses Mutter immer verzückt. Das ist Jiddisch und heißt etwa: Alles ist möglich in Amerika. Tatsächlich ist Milton Friedmans Aufstieg vom Kellner zum Nobelpreisträger ein amerikanischer Traum. Zu seinem 90. Geburtstag vor knapp einem Jahr gab Präsident George W. Bush ein Festessen im Weißen Haus. Rose und Milton kamen - das war eine Gunstbezeugung. "Solche Dinner sind sterbenslangweilig", sagt er. "Alles hängt davon ab, neben wen man gesetzt wird", ergänzt sie. Deswegen schlagen sie die häufigen Einladungen aus Washington - die Reise im Privatflugzeug ist sowieso Voraussetzung - so gut wie immer aus.

Eine Fehlgeburt traf die Friedmans hart. Erst die Geburt von Janet 1943 veränderte alles. "Janet war wie ein Geschenk aus dem Himmel. Nichts anderes interessierte mich mehr", sagt Rose. Auf seine Weise zeigte auch Milton seine Vaterliebe: Akribisch notierte er Gewicht und Essen von Janet, um daraus statistische Tabellen und Kurven anzufertigen. Ebenso gewissenhaft listete er Janets erste Wörter auf. Als das Baby an einer Magenkrankheit litt, rannte Milton durch New York, um trotz Kriegs-Mangelwirtschaft die vom Arzt empfohlenen Bananen zu ergattern. Tagsüber grübelte er für die Statistical Research Group der Columbia University über die Ballistik der Flak-Abwehr oder die Flugfähigkeit des Bombers B-29. Die Arbeit für die US-Armee war geheim, selbst seiner Frau durfte er kein Wort davon erzählen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde David geboren. Rose war erleichtert, weil sie bei der Fehlgeburt einen Jungen verloren hatte und dieser ihr in gewisser Weise wiedergegeben wurde. Es gab aber noch einen weiteren Grund zur Freude. "Als Milton mir sagte, es sei ein Junge, rief ich aus: Gott sei Dank! Ich brauche keine Kinder mehr zur Welt zu bringen. Wir hatten nie vor, eine große Familie zu gründen."

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Die Kinder Janet und David: Ein Anarchist liebt das Mittelalter und eine Anwältin das Steuernsparen

Der Eingang von Janet Friedmans Haus ist kaum zu finden. Ein von Gras und Blumen überwucherter Pfad führt nach hinten zur Tür. Die beiden ersten Ziffern der Hausnummer 2400 sind verschwunden. Über der Garage hängt der Rahmen eines Basketballkorbs. Es gibt keine Klingel, nur ein angerostetes Glockenspiel. Das Haus ist groß, aber im Wohnzimmer fühlt man sich trotz der hohen Decke wie in einer Höhle. Die Kacheln sind braun, die Möbel dunkel. Trotz großer Fenster und Terrassentür dringt nicht viel Licht ins Innere: Die Bäume und ein Gartenhaus sperren die Sonne aus. Janet sitzt hier gern in einem schwarzen Sessel mit Fußstütze und schreibt auf ihrem Apple-Laptop, lauscht Hörbüchern oder spielt mit Chip, ihrem Mann, Bridge.

Das Haus von David Friedman ist fast hundert Jahre alt. Den Blick von der Straße versperren zwei uralte Fichtenriesen. Im Garten wächst es wild und bunt. Auf der Holzveranda stehen Stühle und ein selbst gebasteltes Kinderbett, das David nach mittelalterlichen Zeichnungen baute. Seit acht Jahren wohnt er hier mit seiner zweiten Frau und zwei Kindern. David sieht seinem Vater verblüffend ähnlich, ein rundes Gesicht mit Halbglatze und einer großen Nase. Aber Milton Friedman würde sich nicht so anziehen: David trägt ein kurzärmeliges Hemd mit mexikanischen Verzierungen und altmodische schwarze Sportschuhe.

Die Geschwister sind grundverschieden. "Erst hatten wir wenig miteinander zu tun, dann verbündeten wir uns gegen die Eltern", sagt David. Die introvertierte Janet zögert beim Sprechen, Hände und Finger rühren ein Eigenleben, sie unterstreichen das Gesagte. David kennt keine Scheu, zitiert freihändig aus Gedichten und lächelt ohne Unterlass. "Janet ist organisiert und willensstark. Sie denkt wie eine Anwältin", sagt der Vater. "David ist extrovertiert und originell. Er braucht die Abwechslung."

Wie alle Friedmans kämpfte auch Janet gegen den Staat - nur auf pragmatische und bürgerliche Weise. "Ich rebellierte gegen meine Eltern, indem ich mich nicht für Politik interessierte", sagt sie. Als Anwältin einer Kanzlei in San Francisco vertrat sie Unternehmen gegen Schadenersatzklagen. Später beriet sie wohlhabende Kunden beim Steuersparen. "Früher lagen die Steuersätze extrem hoch", sagt Janet. "Da hat es noch Spaß gemacht, Schlupflöcher im Gesetz zu finden." Die Arbeit ihres Vater führte während der Amtszeit von Ronald Reagan zu dramatisch niedrigeren Steuern vor allem für Besserverdienende. Heute kümmert sich Janet nur noch um ihre drei Pferde und Dressurreiten. Und natürlich um Bridge. Ihr Mann Chip wurde fünfmal Weltmeister, im vergangenen Jahr war Janet Kapitän der siegreichen Mannschaft. "Beim Poker denken die Menschen zu Unrecht, dass Glück wichtig sei", sagt sie. "Bei Bridge denken sie, Glück spiele keine Rolle. Doch auch das stimmt nicht."

David Friedman liebt Gedichte aus dem Mittelalter. Er übersetzte nicht nur als Erster das Hildebrandslied ins Englische, sondern erfand auch ein Ende für das 1200 Jahre alte altdeutsche Fragment. Derzeit versucht er seinen fantastischen Roman "Harald" an einen Verlag zu verkaufen. Die Idee entstand aus den Gutenachtgeschichten für seine Kinder. Wie sein Vater, der früher im Auto vom Zirkusdirektor Gazookis erzählte, erfand David für seine Tochter und seinen Sohn eine Königssage um das mittelalterliche isländische Volk Northvales. Das fasziniert ihn seit langem, seiner Meinung nach herrschte dort fast Anarchie. "Es gab Gerichte und Anwälte", sagt David, "aber keine Polizei oder Armee. Die Durchsetzung des Rechts war komplett privat organisiert."

David Friedman ist eigen. Früh las er haufenweise Bücher, als Teenager machte er sich ernsthaft Gedanken über die Welt. Warum braucht man Richter und Polizisten? Sie wären machtlos, wenn sich die Mehrheit nicht an Gesetze hielte. David war verunsichert und beschloss vorläufig gesetzestreu zu leben, weil sonst die Gesellschaft zusammenbrechen könnte. Der heutige Anarchist David befolgte mustergültig alle Gesetze. Er weigerte sich sogar, einem minderjährigen Freund ein Glas Wein zu kaufen. "Alle dachten, ich spinne", sagt David. "Ich bin ein wenig begriffstutzig, aber irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Niemand fühlt sich moralisch verpflichtet, sich an die Gesetze zu halten." Die Geschichte des Science-Fiction-Autors Robert Heinlein "Der Mond ist eine herbe Geliebte", in der Heinlein eine Gesellschaft auf dem Mond ohne Staat, aber mit Eigentumsrechten beschreibt, öffnete ihm endgültig die Augen: David wurde Anarchist.

Ein Disput zwischen Vater und Sohn: Muss sich der Staat zurückziehen, oder muss er abgeschafft werden?

"Mit David haben wir viel herumgepfuscht", sagt Rose Friedman. "Praktisch seit seiner Geburt denkt er wie ein Ökonom, geht wie ein Ökonom und atmet wie ein Ökonom." Die Eltern drängten ihn trotzdem zu einem Physikstudium, aus Angst vor dem langen Schatten des Vaters. David fügte sich lange. Erst als frisch gebackener Doktor der Physik veröffentlichte er 1973 das Buch "Das Räderwerk der Freiheit - Leitfaden zum radikalen Kapitalismus". In dem heutigen Anarchistenklassiker schwärmt er von einer Gesellschaft, die sich langsam von staatlichen Zwängen befreit. Mit dem Buch befreite er sich vom Druck der Eltern und begann mit 28 Jahren das Studium der Wirtschaftswissenschaften. "Einige sahen in mir nicht mich selbst, sondern meinen Vater. Das war nicht einfach."

Heute lehrt David Friedman in der juristischen Abteilung der Santa Clara University, wo er sich mit der ökonomischen Theorie des Rechtssystems beschäftigt. Er setzt sich etwa mit Anreizstrukturen für Polizisten, Verbrecher oder Richter auseinander. In einem wöchentlichen Seminar diskutiert David außerdem umwälzende Erfindungen in der Nano- oder Biotechnologie und deren mögliche juristische und ökonomische Konsequenzen. "Mein Vater veränderte die Welt des 20. Jahrhunderts, ich kümmere mich um das 21. Jahrhundert", sagt er lächelnd.

Vater und Sohn sind aus gleichem Holz geschnitzt. "Wir streiten uns, seitdem ich denken kann", sagt David. "Nachdem ich Milton kennen gelernt hatte, konnte ich nur noch halb so viel sagen", erinnert sich Rose. "Nachdem David geboren wurde, kam ich gar nicht mehr zu Wort." Milton Friedman vertritt konservativ-liberale Ansichten. Der Staat soll sich zurückziehen und bloß die Sicherheit nach innen und außen gewährleisten. Sein Sohn geht weiter und fordert die Abschaffung des Staates. "Ich finde es moralisch falsch, Menschen umzubringen", sagt David.

"Aber warum soll es falscher sein, wenn ein Gesetzgeber mir sagt, dass es falsch ist?"

Der Weg zur Anarchie soll evolutionär, Schritt für Schritt erfolgen. David: "Revolutionen und Gewalt führen nur zu mehr Staat." Darüber gerät er regelmäßig in die Haare mit linken Anarchisten. Wie auch über die Rolle des Marktes, von dem es seiner Meinung nach nicht zu viel, sondern zu wenig gibt. In seiner Traumgesellschaft bezahlen die Einwohner private, dezentrale und gewinnorientierte Schutzagenturen, die ihre Sicherheit garantieren. Es gibt nicht ein Rechtssystem, sondern mehrere, die in Konkurrenz zueinander stehen. Sein Konzept des Anarcho-Kapitalismus erinnert stark ans Mittelalter - nicht aus Zufall fasziniert David diese Epoche.

Der Enkel Patri lebt in einer Kommune, arbeitet als Pokerspieler und plant eine anarchistische Siedlung

Alle nennen die Terrassentür "Darwin-Rampe". Wer nicht aufpasst und nach draußen tritt, stürzt in die Tiefe. Früher war dort eine Holzterrasse, aber die haben die Termiten gefressen. Bei Partys stellt Patri Forwalter-Friedman brav einen Tisch vor die Tür, damit niemand tatsächlich von der Evolution ausgesiebt wird. Die Wahrscheinlichkeit wäre recht hoch, denn daneben steht die Bar mit unzähligen Flaschen. Auf dem Barhocker sitzt Mitbewohner Rob im braunen Bademantel und löst eine knifflige Frage aus der Qualifikation für die Endrunde der US-Rätselmeisterschaft. Er ist im Stress, die Antwort muss bis Mittag per Internet eingeschickt werden. Unten vor dem Pool hält Kommunen-Mitglied Andy im weißen Bademantel kleine quadratische Zettel ins Sonnenlicht. Das ist auch ein Rätsel, ein dreidimensionales sozusagen, für die Logik-Meisterschaft. "Man darf eine Schere benutzen", erklärt Patri, was wohl etwas Besonderes ist.

Das Haus fällt von außen nicht auf. Über der Garage hängt ein blaues Holzschild mit einem weißen Schmetterling, das Zeichen für "Alpine Butterfly", dem Namen der Kommune. Der Schmetterling ist aus Bergsteigerseil geschnitten: Butterfly ist ein oft von Alpinisten verwendeter Knoten, die sich beim Bergsteigen gegenseitig mit einem Seil vor dem Absturz sichern. Ähnlich sehen sich die sieben Kommunenbewohner. Vor der Tür steht Patris Honda-Sportwagen. Kennzeichen: "Frrreak."

Die beiden Wandschränke im Wohnzimmer sind von innen mit blauen Kreisen und gelben Prismen bemalt. Ein Kompromiss. Im Rausch der Kommunengründung vor fünf Jahren wollte eine Bewohnerin das gesamte Haus so bemalen. Die anderen wehrten sich - Kommunen sind heute auch nicht mehr das, was sie in den sechziger Jahren mal waren. Im Haus ist nicht viel Platz. Unter der Wendeltreppe hängt ein Internetserver an Nylon-Riemen. Die Riemenkonstruktion spare Platz und symbolisiere das Seastead-Projekt, erklärt Patri: "Der Server schaukelt wie ein Floß im Meer."

Patri gleicht seinem Vater David. Patri sei das "Hirn", sagt Gloria Valentine, die seit mehr als 30 Jahren als Sekretärin für Milton arbeitet. Wie Vater und Großvater spricht und denkt der Enkel mit einer gnadenlosen Logik und ist neugierig wie ein Zeitungsreporter. "Ich habe das Friedman-Gen", sagt Patri. Er wuchs an der US-Ostküste bei seiner Mutter Diana Forwalter auf, die sich früh von David scheiden ließ. Patri war beliebt bei den Großeltern. Als Milton 1988 die Freiheitsmedaille von Präsident Ronald Reagan erhielt, durfte er mit. "Überall war das Logo vom Weißen Haus abgedruckt", erinnert sich Patri an das Festessen. "Ich habe mir die Taschen mit den Servietten voll gestopft und in der Schule damit angegeben."

Obwohl er lange vom Vater getrennt war, entwickelte Patri die gleichen anarchistischen Neigungen. In der Schule stritt er sich mit Lehrern, die ihm das Tragen aufmüpfiger T-Shirts oder das Hören von Musik in der Cafeteria verbieten wollten. Früh entwickelte er eine Neigung zum Computer und kannte sich überhaupt gut mit Technik aus. So fand er einen Trick, mit dem er umsonst aus Fernsprechzellen telefonieren konnte. Mit Freunden baute er in einem Hotelzimmer die Kabelbox vom Fernseher um, damit sie umsonst Bezahlfilme sehen konnten. "Das ist ganz einfach", sagt er. Als er als Teenager mehr Zeit mit seinem Vater verbrachte, entwickelte sich ein inniges Verhältnis. "Wir streiten viel", sagt Patri, "aber zu 95 Prozent sind wir uns einig." Nicht einig sind sie sich über die verletzten Eigentumsrechte des Hotels und der Fernsehstation. "Das von uns genutzte Satellitensignal kostete das TV-Unternehmen keinen Cent", verteidigt sich Patri. Was würde er dem Hotelbesitzer sagen, wenn der sie erwischen würde? "Wir schließen erst den Verkaufsvertrag, wenn wir auf die Einverständniserklärung auf dem Bildschirm klicken", erwidert er. "Aber weil wir nie daraufklicken, brechen wir auch keinen Vertrag."

Patris Raum ist lila gestrichen. Auch sein Zungen-Piercing ist lila. Lila ist seine Lieblingsfarbe, bei einer seiner ersten Pokerweltmeisterschaften vor fünf Jahren in Las Vegas spielte er mit einem lila Irokesenschnitt. "Ein Fehler", sagt der 26-Jährige, der jetzt kurze dunkelbraune Haare trägt. "Ich bin zu sehr aufgefallen und konnte mich nicht konzentrieren." Einmal die Woche stopft er sich 5000 bis 10 000 Dollar in die Jackentasche und fährt mit dem Honda zu den Casinos der Umgebung. Patri spielt mit Walkman auf den Ohren und Baseballkappe tief in der Stirn - mit einer Sonnenbrille sieht er nicht genug. Er pokert seit fünf Jahren, gegen Vorstandschefs, Zockerprofis und Florida-Rentner. Manchmal verliert er alles, öfter gewinnt er viel. Nach seiner Rechnung verdiente er bislang im Schnitt 50 Dollar die Stunde. Beim Pokern kommt es kurzfristig auf Glück und langfristig auf Können an. "Der Trick ist, nicht viele Karten aufzunehmen und mit schlechten Blättern konsequent auszusteigen. Um dann mit einer guten Hand viel Geld zu setzen."

Vor kurzem schloss Patri sein Studium der Computerwissenschaften ab. Die Idee für Seastead hat er bereits seit Jahren. Jetzt will er sie verwirklichen. Anders als Freedom Ship oder andere Anarchistenfantasien, die im Mülleimer der Geschichte landeten, sind die Flöße laut Patri eine realistische Sache. Die Kosten lägen mit 400 000 Dollar pro Floß nicht hoch, "weniger als ein Haus in Kalifornien", und die Flöße könnten so miteinander verbunden werden, dass das Projekt langsam wachse. Erst mal will er mit zwei Partnern bis Ende 2004 einen Prototypen in der Bucht von San Francisco bauen. Das Trio erhofft sich dadurch Aufmerksamkeit durch die Presse, Geld von wohlhabenden Silicon-Valley-Bewohnern und die Unterstützung von Umweltschützern - auf dem Floß sollen Recycling-Ideen, Solarenergie und nachhaltige Techniken zum Einsatz kommen. Später, vor Gibraltar, sollen Hotels, die Drogen à la carte servieren, die Vermarktung von Fernsehrechten und verbotenes Glücksspiel Seastead profitabel machen.

In jeder Generation wächst die Konsequenz. Und die Alten denken über die letzte Konsequenz nach

Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los! Das Gedicht von Goethes Zauberlehrling könnte Milton Friedman durch den Kopf gehen, wenn er Gedichte so lieben würde wie sein Sohn David. Die liberale Lehre verstärkte sich im Lauf der Generationen in seiner Familie auf erstaunliche Weise. Der Erzliberalismus des Vaters wurde vom Sohn zum Anarcho-Kapitalismus weitergedreht. "David ist kein gefährlicher Anarchist", sagt Milton. "Wenn man die heutigen Umstände bedenkt, wollen David und ich das Gleiche - es stellt sich nur die Frage, wie weit man gehen will." Die Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn gehen laut Rose unentschieden aus. "Wenn das stimmt", sagt David, "dann ist das ein Weltrekord."

Patri dagegen will nicht diskutieren - er will Resultate sehen. Sein Großvater und Vater fordern die Freigabe von Drogen - er nimmt sie. "Aber erst nach gründlicher Information im Internet." Patri will keine graduelle Veränderung der gesamten Gesellschaft, sondern seinen Traum mit wenigen Menschen sofort verwirklichen. "Ich werde auf dem Floß leben." Dort erhofft er sich aber kein Paradies. Wie sein Vater ist er Realist, einen Revolver hat er sich bereits gekauft. Sein Großvater sagt: "Patri ist noch jung." Anarchisten-Projekte wie Patris Seastead habe es schon viele gegeben. "Und alle sind gescheitert." Patri kann das nicht aus dem Konzept bringen. "Ich sage das wirklich ungern, aber mein Großvater ist einfach zu alt für solche Ideen."

Tatsächlich zieht ein Schatten auf. Aaron Director, der 101-jährige Bruder und Förderer von Rose, fängt an, körperlich und geistig abzubauen. Er wiederholt oft Fragen und Sätze. Rose und Milton Friedman schauen bei ihren Besuchen dort in einen furchtbaren Zerrspiegel ihrer Zukunft. Der 25. Juni war ihr 65-jähriger Hochzeitstag, aber sie haben nicht gefeiert. Vom 75-jährigen Jubiläum wollen sie erst recht nichts wissen: "Das erleben wir nicht mehr", sagt Friedman. "So lange halten wir nicht durch."

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