Verwahrloste Wohnblocks, Kriminalität, sozialer Zerfall: In der Pariser Banlieue ist Frankreichs Fußballstar Kylian Mbappé aufgewachsen. Er hat den Weg hinaus geschafft. Zu dem Ort seiner Herkunft hat er ein besonderes Verhältnis
Bondy hat, zugegeben, keinen besonders guten Ruf. Bei den schweren Vorstadtkrawallen von 2005 war die Trabantenstadt nordöstlich von Paris ein Hotspot. Heute steht der Stadtname nicht zuletzt wegen eines bekannten „Bondy-Blogs“ schlicht für Banlieue. Ihrem Cliché ist hier Genüge getan: Graue Wohntürme, in deren Schatten Dealer wachen, bieten gerademal freie Sicht auf das Brückengewirr des Autobahnkreuzes A3. Daher vielleicht der Spruch auf einer fensterlosen zehnstöckigen Fassade: „Liebe deinen Traum“ steht zur Wandmalerei eines Sportartikelherstellers. Es ist der Traum vom Entkommen. Ein kleiner Junge im grünen Leibchen des Lokalvereins AS Bondy schläft auf einem Fußball als Kopfkissen. Er träumt davon, das blaue Trikot der französischen Nationalelf zu tragen. Nummer: 10. Name: Kylian Mbappé.
„Willst du ein Leibchen mit seiner Unterschrift?“, fragt auf dem Trottoir eine Stimme. „Mein Sohn ist mit Kylian in die Schule gegangen, er könnte das arrangieren.“ Wirklich? Der Herr mit Kapuze und Mundschutz versichert: „Ich weiß, das sagen hier alle. Aber die Unterschrift wäre echt.“ Kleiner Ablenkungsversuch: Was hält der Anwohner von Mbappé? „Kyky ist einer von uns, und einer, der es geschafft hat“, sagt der Mann. „Ich sage immer: Wenn du es zu etwas bringen willst, dann musst du fort von hier. Wie Kylian. Er ist schon auf und davon, als er noch ein Teenager war. Aber sein Leibchen, willst du das? “
Stimmt, Mbappé war ein Frühzünder. Beim AS Bondy spielte er nur bis 15. Noch nicht 14, hatte ihn der damalige Trainer von Real Madrid, Zinedine Zidane, einmal nach Spanien eingeladen. Am Flughafen in der Hauptstadt angekommen, forderte ihn der französische Ex-Weltmeister auf, sich im Auto auf den Nebensitz zu setzen. Bevor Kylian in den blitzenden Sportwagen stieg, fragte er verschüchtert: „Soll ich die Schuhe ausziehen?“
Seine Eltern wollten dann aber nicht, dass ihr Sohn nach Spanien zog. Vater Wilfried, Fußballtrainer aus Kamerun, und seine Mutter Fayza, eine Spitzenhandballerin mit algerischen Wurzeln, verlangten, dass Kylian zuerst die Schule in Bondy beendete. Der Musterschüler tat dies auf seine Art: Er legte das Abitur schon mit 17 ab. Da war er in seiner Freizeit bereits einmal in der ersten französischen Liga für AS Monaco angetreten.
Mit 18 kam er bei Paris Saint-Germain unter Vertrag. Mit seinem heutigen Klub wurde er Torschützenkönig und Fußballer des Jahres, mit den „Bleus“ Weltmeister. Ihre Nummer 10 ist in Frankreich längst Nummer eins, im übertragenen Sinn. Um den Weltstar Mbappé reißen sich die besten europäischen Klubs. Aber keine Sorge: „Kylian wahrt einen kühlen Kopf.“ Das sagt nicht Zidane. Das sagt eine Frau, die es wissen muss: Céline Bognini war die frühere Musiklehrerin des Fußballers in Bondy. Bei ihr lernte Kylian einst Querflöte. „Er spielte hervorragend. Im Chor schaute er als einziger genau hin, wenn ich vorsang, damit er schneller lernte.“
Dann lässt die Italienerin eine Serie von Adjektiven zu Mbappés Charakter vom Stapel: Er sei aufgeweckt, hochintelligent, neugierig, agil, authentisch. Und respektvoll, aufrichtig, fleißig, gelassen. Und Humor habe er auch eine Menge. Vieles davon verdanke er seinen Eltern, sagt Bognini. Sie hätten ihre drei Söhne nie aus den Augen gelassen, sondern mit starken Wurzeln und Werten erzogen. Dann sagt die Musiklehrerin selbst einen starken Satz: „Wenn Mbappé heute weiß, was er will, dann auch deshalb, weil er weiß, wo er herkommt.“
Wo er herkommt: Das hat der Jungstar im vergangenen Jahr in einem Beitrag für die Online-Plattform „The Players‘ Tribune“ klargemacht, gewidmet „den Kindern von Bondy, den Kindern der Pariser Agglo, den Kindern der Vorstädte“. Zu ihnen schreibt er: „Wir sind Träumer. Ich glaube, wir sind so geboren. Vielleicht, weil Träumen nichts kostet.“ Dann wendet er sich an die anderen: „Die Leute von außerhalb sprechen schlecht über die Banlieue. Aber wenn man nicht von dort stammt, kann man nicht verstehen, was das Wort bedeutet.“ Kriminalität gebe es überall, Konflikte und Notlagen auch, führt Mbappé aus. „Tatsache ist aber, dass ich als kleiner Junge selber erlebt habe, wie die härtesten Jungs die Einkaufstaschen meiner Großmutter nach Hause trugen.“
Uns Auswärtigen erzählt er, was zu tun sei, wenn auf dem Trottoir eine Gruppe von 15 Jungs entgegenkommt. Reißaus nehmen? Nein, man grüße alle. Betonung auf alle. Auch wenn man nur einen kenne, tausche man mit allen 15 einen „Fist Bump“, einen Faust-zu-Faust-Gruß, schreibt Mbappé. „Wenn du nur den grüßt, den du kennst, werden dich die 14 anderen nie vergessen. Sie wissen dann, was für ein Mensch du bist.“ Unnötig zu sagen: ein schlechter Mensch.
So funktioniere die Banlieue. Im Vorstadtdépartement Seine-Saint-Denis mit der Verwaltungsnummer 93 – „neuf-trois“ für Einheimische –, gehe es um Zweierlei: Solidarität und Ehre. „Wir spielten um einen Plastikpokal für zwei Euro, als gehe es um Leben oder Tod“, erinnert er sich. Das und die harten Lektionen des Banlieue-Lebens hätten ihn mehr gelehrt als die teuerste Fußball-Akademie, schreibt Mbappé und unterzeichnet seinen Beitrag mit „Kylian aus Bondy“.
Ja, in Bondy ist das Leben anders. Die Metzgereien sind „halal“ angeschrieben, die Läden „exotisch“. Es gibt auch ein paar Zonen mit ehemaligen Arbeiterhäuschen, wo die „Franzosen“ leben. So nennen die Bewohnerinnen und Bewohner der verfallenden Wohntürme die Weißen. Einer von ihnen, Bürgermeister Stephen Hervé, räumt in seinem hässlich betonierten Rathaus ein, dass er die Familie Mbappé erst einmal persönlich getroffen habe. Man lebe hier getrennt. Nicht unbedingt ethnisch, aber wohlstandsmäßig. Wenn man den Vorsteher von 54 000 Einwohnern zum „Prinz von Bondy“ (so die Lokalmedien) befragt, hat er nur ein paar Gemeinplätze parat. Mbappé, aus einer intakten Familie und einem ehrgeizigen Sportverein stammend, sei ein Modell für die Jugend der Gemeinde. Aber nicht das einzige! Bondy habe schon andere Fußballcracks wie Jonathan Ikoné oder William Saliba hervorgebracht, betont Hervé.
Mbappé hält Distanz zur Politik. Nach dem Tod von George Floyd in den USA twitterte er – und das wie immer selbst, ohne die Hilfe einer PR-Agentur – die US-amerikanische Parole weiter: „Die Polizei mit uns, nicht gegen uns.“ Wenn der Weltstar gelegentlich nach Bondy kommt, dann trifft er keine lokalen Würdenträger. Als er in Bondy 2018 den Weltmeistertitel der „Bleus“ feierte, kamen tausende vorwiegend junge Menschen ins Stade Léo-Lagrange, wo Mbappé seine ersten Tore geschossen hatte. Dass er 25 Schüler der Schule Jean-Renoir zu zwei WM-Spielen eingeladen hatte, sagte bei der Feier niemand, auch wenn es in Bondy alle wissen.
Heute wirkt das Stadion Léo-Lagrange eher ungepflegt. Auf dem zweiten Feld mit dem Kunstrasen trudeln nach Feierabend U16-Burschen zum Fußballtraining ein. Man grüßt sich per Faust-zu-Faust, wortlos, aber keiner wird vergessen, auch der unbekannte Besucher nicht. Alle sind hier gleich, eine Hautfarbe hat niemand. Eine persönliche Meinung aber schon. „Ich mag seinen Stil nicht besonders“, sagt einer der Youngsters unwirsch zum Stichwort Mbappé. Und: Die anderen stimmen zu, wenn man nachhakt. Die Gründe müssen sie allerdings zusammensuchen wie eine Ausrede: „Er tanzt zu sehr.“ Oder: „Er behält den Ball zu lange.“
Kleine Wichtigtuer? Ein junger Maghrebiner mischt sich ein: „Weißt du, der Beste von allen ist gar nicht Kylian. Der Beste ist Marco Verratti.“ Den Namen des italienischen Mittelfeldspielers von Paris Saint-Germain spricht er wie „Verratschi“ aus. Banlieue-Akzent. Die anderen nicken: Der Beste ist Verratschi.
So zu tun, als möge man Mbappé nicht: Das ist auch so ein Banlieue-Reflex. Einen Fremden führt man zuerst einmal in die Irre, bevor man ihm die herzlichste Gastfreundlichkeit angedeihen lässt. Vielleicht sind diese Jungs auch bloß gegen die mediale Überhöhung ihre Ex-Kumpels Mbappé zum Fußballgott.
Denn der PSG-Stürmer ist für sie natürlich der Größte. Der Erfolgreichste, einer, der seinen Traum realisiert hat, der einen Ferrari fährt (Verratti nur einen Bentley). Aber zugleich ist Mbappé auch einer der ihren. Auch wenn er besser zaubert mit dem Ball, mehr unerwartete Tore schießt: Hier ist Mbappé zuerst einmal Kylian, der kleine Junge aus dem Wohnblock mit Blick auf das Fußballfeld. Einer wie sie, der die Banlieue-Codes kennt und verinnerlicht hat – Respekt und Ehre, Spielwitz und Intuition. Mit Launen vielleicht, aber ohne Allüren.
Wer aus Bondy kommt, von ganz unten in der französischen Gesellschaft, vergisst die Seinen nicht, auch wenn er Multimillionär ist. Für sie bleibt er einer aus dem „Bled“, dem Dorf. Einer, der alle grüßt.
Auch der einzige Jugendliche, der ohne Sportkleidung zum Training kommt, gibt sich unbeeindruckt von Mbappé, obwohl er gerne wäre wie er. Der 16-jährige Millésime will sich von seinen Kumpels verabschieden: Der Verein Paris FC hat ihn angeheuert. Das ist noch nicht der Pariser Spitzenklub PSG, aber es ist ein Anfang für eine Profikarriere. Millésime zählt auf: Ein Bruder spiele in Toulouse, ein Cousin in Bordeaux, einer gar in Monaco. Wie einst Mbappé.
Millésime sieht seine Zukunft eher in England. Das sagt er ganz nüchtern. Der junge Franko-Kongolese wirkt nicht wie der Träumer von der Wandmalerei. Aber jetzt geht er, da das Training beginnt. Ohne Aufwärmen, ohne lange Theorie. Die Unter-16-Jährigen spielen wie die Großen, schießen satt wie 20-Jährige.
Trainer Tonio Riccardi lässt sie spielen. „Benutzt den Raum!“, schreit er ab und zu, mehr braucht es nicht. „Es ist verrückt, wie diese Jungs den Ball beherrschen“, staunt er selbst. „Die können schon alles.“ War das auch so mit Mbappé? „Natürlich“, erinnert sich der Trainer. „Kylian war anfangs eher schmächtig, aber schon sehr technisch. Und er war einfach besser, schneller, öfter am Ball. Er lief von selbst. Man musste ihn nur etwas ausrichten.“
Tonio, wie ihn hier alle nennen, ist in Bondy geboren und aufgewachsen, hat hier zahllose Jungs geformt, aber er spielt sich nicht als „Mbappés erster Trainer“ auf. „Am wichtigsten für ihn waren seine Eltern“, sagt er. „Sie beraten ihn noch heute, auch wenn sein Vater kaum öffentlich auftritt und die Medien meidet. Aber er war es, der Kylian das Rüstzeug mitgegeben hat, auf dem Fußballfeld wie auf dem harten Pflaster von Bondy.“
Gewiss – aber Mbappé hat auch etwas, das man von niemandem lernt. „Kylian entschied ganze Partien im Alleingang“ sagt auch Riccardi: „Manchmal war es, als hätte er beschlossen, das Spiel zu gewinnen. Und dann gewann seine Mannschaft auch.“ Nach einer kurzen Anweisung aufs Spielfeld fügt er an: „So einem Spieler begegnet man als Trainer nur alle 30 Jahre einmal.“ Bestenfalls.