Nächstes Jahr wird alles besser. Nächstes Jahr gibt es einen Impfstoff. Und: nächstes Jahr kein Chaos mehr. So und ähnlich lauteten die Botschaften im vergangenen Herbst, als die Inzidenzzahlen nach der Urlaubssaison wieder rasant stiegen, die Intensivbetten knapper wurden und das lange Sterben in den Heimen begann. Nun ist der lang ersehnte Stoff da, zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung sind durchgeimpft, ein relativ entspannter Sommer liegt hinter uns. Und dennoch überflügeln die Infektionszahlen die des Herbstes 2020, in den Heimen wird wieder gestorben, in einer Seniorenresidenz am brandenburgischen Werbellinsee sind es bereits elf Bewohner:innen. Dort waren die Schuldigen auch bald gefunden, jene 50 Prozent der Mitarbeitenden nämlich, die sich nicht hatten impfen lassen.
Und wieder ist sie da, die Schulddebatte. Konnten Ungeimpfte bis in den Sommer hinein noch auf Impfstoffmangel und Chaos in den Impfzentren verweisen, sind sie nun in Erklärungsnot – wie kürzlich Sahra Wagenknecht in der Talkshow von Anne Will, als sie öffentlich an die Wand geredet wurde, weil sie noch nicht geimpft ist. Nein, es gibt (noch) keine Impfpflicht in Deutschland, aber das Verständnis für diejenigen, die die Nadel meiden, ist mit der sommerlichen Sonne geschwunden. Wo vor Monaten noch Appelle verbreitet wurden, werden nun immer deutlichere Drohkulissen aufgebaut. Fast die Hälfte der Bundesländer hat „als Beitrag zur Normalisierung des Lebens“ schon begonnen, die 2G-Regel einzuführen, nach der nur noch Geimpfte und Genesene an bestimmten Veranstaltungen teilnehmen oder Einrichtungen besuchen dürfen, ohne Maske und Abstand.
Der geschäftsführende Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) hält 2G sogar für die „logische Steigerungsstufe“, um die Überlastung des medizinischen Systems zu verhindern. Großunternehmen wie Bayer gehen dazu über, ihre Kantinen zu separieren: für jene, die den Goldstandard erfüllen, und den Rest, in „enger Absprache mit den Betriebsräten“, wie es heißt. Wie sich die „Zwei-Klassen-Kantine“ (Bild) eigentlich damit vereinbaren lässt, dass Arbeitgeber – noch – nicht nach dem Impfstatus der Mitarbeiter:innen fragen dürfen, bleibt unklar. Doch ohnehin wird die Forderung der Wirtschaftsverbände nach Impfauskunft immer lauter. Bald könnte von nicht geimpften Beschäftigten gefordert werden, sich wie in Österreich und Italien testen zu lassen, bevor sie die Betriebstür passieren – auf eigene Kosten. Dort müssen sie sonst ohne Recht auf Lohnfortzahlung zu Hause bleiben.
Hessen prescht noch weiter vor, indem es dem Lebensmittel-Einzelhandel freie Hand gibt. Das Verwaltungsgericht Frankfurt hatte entschieden, dass in Bezug auf 2G der Einzelhandel mit der gewerblichen Industrie gleichzustellen sei. Es könnte also bald Supermärkte geben, bei denen an der Eingangstür kontrolliert wird, wer geimpft oder genesen ist. Die großen Discounter haben sich vor einiger Zeit zwar dagegen ausgesprochen, aber wie lange noch? Der Wirtschaftsanwalt Benjamin Onnis hat im Focus gerade erklärt, dass das 2G-Modell für viele Einzelhändler attraktiv sein könnte, weil damit die Masken- und Abstandsregeln und Hygienepflichten entfielen. Das Personal allerdings könnte sich gezwungen sehen, sich impfen zu lassen, will es keine Kündigung riskieren. Ob die 2G-Regel die Pandemie einzudämmen hilft, ist jedoch umstritten. Abgesehen von verfassungsrechtlichen Bedenken, die der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags schon im September in einem Gutachten formuliert hat, warnen Kritiker davor, dass Geimpfte demnächst wie „Tarnkappen-Bomber durch die Bevölkerung rauschen“, so die drastische Formulierung des Virologen Alexander Kekulé. Auch sein Wissenschaftskollege Hendrik Streeck bewertet die Einschränkungen kritisch und verweist auf die vermehrten Impfdurchbrüche bei Erwachsenen.
„Impfdurchbruch“ ist eine der Kampfvokabeln dieses Herbstes. Denn das, was der Impfstoff einmal versprochen hat, nämlich eine über längere Zeit bestehende Immunität, hat sich nicht bewahrheitet. Die Wirksamkeit des Impfstoffs nimmt nach dessen Gabe kontinuierlich ab, bei älteren Menschen stärker als bei jüngeren. Eine kürzlich in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Studie zeigt, dass bereits zwei bis drei Monate nach der Impfung von einer erheblichen Reduktion der Wirksamkeit ausgegangen werden muss.
Das Robert Koch-Institut registrierte seit Februar 117.763 Impfdurchbrüche in Deutschland, in deren Folge 1.076 Menschen, darunter 782 über 80-Jährige, gestorben sind. Die Krankheit verläuft bei geimpften Personen in den meisten Fällen erheblich milder, die Hospitalisierungsrate liegt bei einem Viertel gegenüber drei Vierteln bei nicht Geimpften. Deshalb ist Impfen allemal besser, als auf eine schwere Infektion zu warten. Doch auch immunisierte Infizierte tragen eine Virenlast, die sie weiterverbreiten können, gerade wenn sie sich unter 2G-Bedingungen bewegen. Nur Schnelltests wären dann ein effektives Mittel gegen die Ausbreitung insbesondere der Delta-Variante des Virus, die in Deutschland vorherrscht. Angesichts dieses Sachverhalts wird der Ruf nach Auffrischungsimpfungen nicht nur für über 70-Jährige und Gefährdete, für die diese Empfehlung schon jetzt gilt, immer lauter. Aber auch hier gehen die Meinungen auseinander. Viele Virolog:innen halten die 18- bis 69-Jährigen bislang noch für ausreichend geschützt und verweisen auf die weltweit ungerechte Verteilung von Impfstoff. Es gibt aber auch Experten wie den Berliner Impfstoff-Forscher Leif Sander, die sich von Booster-Impfungen eine dämpfende Wirkung versprechen.
Nachdem Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Oktober mit seiner Aufforderung, alle Erwachsenen ein drittes Mal zu impfen, noch viel Verärgerung über das „Schüren von falschen Erwartungen“ ausgelöst hatte, steigt nun der Druck auf die Ständige Impfkommission, die dafür plädiert, priorisiert die 15 Millionen Alten und Kranken zu boostern. Gleichzeitig forderte Spahn nun die Länder auf, die Impfzentren wieder zu eröffnen, die über diese „völlig unabgestimmten Vorschläge“, wie Niedersachsens Sozialministerin Daniela Behrens (SPD) vermerkt, wenig „amused“ sind. Ihr Parteikollege im Bund, der mögliche künftige Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), dagegen unterstützt Spahn.
„Sortiertes Vorgehen“ im Winter, wie es die Expertenkommission Anfang der Woche forderte, sieht anders aus. Die Politik handle nach „Bauch-Evidenz“, so GKV-Chef Andreas Gassen, was den epidemiologisch bewanderten Lauterbach besonders ärgern wird. Offenbar sitzt der Politik die Angst im Nacken, dass es wieder zu Überlastungen der Kliniken kommen könnte, wenn die Hospitalisierungsrate weiter steigt und die Geduld und die Einsatzbereitschaft der Pflegekräfte endgültig erschöpft sind, wie der Klinikstreik in Berlin demonstrierte. Der derzeit allenthalben kolportierte baldige Mangel an Intensivbetten ist in erster Linie ein durch die Pandemie-Überlastung zusätzlich geschürter Personalmangel. Zu keiner Zeit wurde, wie eine Recherche des Bayerischen Rundfunks zeigt, die Bettenreserve überschritten, aber durchaus die Kräftereserve der Pflegenden. Sie werden nun zuerst ins Visier der neu aufflammenden Impfpflichtdebatte geraten. Das passt in ein Narrativ, das einzig von individualisierter Verantwortung handelt.